Mittwoch, 12. August 2009

Tag der deutschen Lyrik

Als der Altphilologe Heinrich S. Ehrenberg sen. (Der Vater unseres Mitarbeiters Heinrich S. Ehrenberg) am 12. August 2000 starb hinterließ er neben vielen Manuskripten zur antiken Literatur auch selbstverfaßte Texte.
Der Nachlaß Ehrenbergs sen. wird von Der Schöne Fall verwaltet. Anläßlich seines Todestages, der zufällig mit unserem neugeschaffenen Tag der deutschen Lyrik zusammenfällt, hier die Erstveröffentlichung seines letzten lyrischen Textes aus dem Jahre 1999:


Heinrich S. Ehrenberg sen.

Blues von dem Mann, der vom Europa-Center sprang

(gewidmet meinen Ex-Genossen von der SED)

Blues
Über eine verschwitzte niedergetretene Straße,
Über menschenerkotzende Betonschachteln,
Über zerquetschte Augen und Hirne,
Blues
Für den Mann, der nachmittags kurz nach halb Drei vom Europa-Center sprang.
Ungehalten lachte der Mercedes-Stern:
Da haben wir's!
Die Welt als schwarze Scheibe,
Aus Schellack, versteht sich,
Mit einer Rille auf jeder Seite -
Und der, der den Absprung nicht rechtzeitig schafft?
Ins Loch mit ihm bei 78 U/min.

Auch er trug ihn einst,
Jenen Thäl-Hampelmann,
Der die Internationale singt,
Wenn man an dem kleinen roten Schwanz zieht.
Das Symbol der Weltrevolution auf der letzten Insel des Imperialismus.
So erklärt es Trotzki
Und er kotzt in den Rinnstein vor der Gedächtnis-Kirche,
Für die Komintern kotzt er
Und für den Weltfrieden
Und für den Mann, der nachmittags um 14:33 Uhr vom Dach des Europa-Centers sprang.
Ein Zauberkünstler war er gewesen,
Ein Illusionist - vielleicht,
Der Tauben und Tücher und Bälle aus leeren Zylindern fischt
Und sie wieder verschwinden läßt.
Ach ja, dachte er manchmal auf der Bühne,
Menschen sind wie Bälle,
Man kann sie in die Tasche stecken,
So schnell, daß keiner weiß, wie ihm geschieht;
Und das Publikum?
Es klatscht Beifall aus Gewohnheit, Gleichgültigkeit oder Angst.

Nein, Vertreter war er gewesen,
Der Mann, der nachmittags um 14:33 Uhr bei 28°C vom Dach des Europa-Centers sprang.
Mit seinen Thäl-Hampelmännern zog er durch die ganze Welt,
Mit jenen Thäl-Hampelmännern,
Die er erfunden hatte,
Patentieren ließ,
Eigenhändig herstellte,
Die er schließlich selbst verkaufte
Auf dem Ku'Damm und in der Via Apia,
In der Kärntner Straße und auf dem Roten Platz
(Und auch in Teheran, in der guten alten Zeit),
Auf allen Märkten dieser kugelbunten Welt,
Dieser schwarzen Schellack-Scheibe.

Josef hieß er (oder Anton?
Was sagt schon ein Name?)
Und er verkaufte seine Thäl-Hampelmänner
Für 3 Rubel oder 12 D-Mark oder 11 Franken oder...
Für 177 Schillinge (Ja, in Österreich, da wußte man noch Qualität zu schätzen!).
- Und einmal verschenkte er einen,
Damals - 1939 - in Mexiko,
Einen Thäl-Hampelmann,
Der die Internationale sang,
Wenn man an dem kleinen roten Schwanz zog.

Er dachte nicht gern zurück,
Der Mann, der nachmittags um 14:33 Uhr MEZ bei 28°C vom Dach des Europa-Centers sprang.
Und er widersprach sich darin
(Vielleicht wußte er es auch nicht mehr),
Wem er diesen Thäl-Hampelmann geschenkt hatte,
Leo Trotzki oder Stefan Zweig.
Ist auch egal, schloß er:
Die Welt braucht sie,
Diese Hampel-Thäl- oder Thäl-Hampelmänner,
Die die Internationale singen,
Wenn man sie dort unten zwischen den Beinen an ihren kleinen roten Schwänzen zieht.

Und nun ist er tot.
Den Sturz vom Europa-Center überlebt man nicht so leicht wie eine Revolution.

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