Samstag, 9. Juli 2011

Zwischen Lügen und Reality TV

In Zeiten, in denen mitunter die einzigen wahren Meldungen in den Nachrichtensendungen der gleichgeschalteten Fernsehsender die Sportergebnisse sind, fühlten sich die Macher des sogenannten Magazin Panorama letztens bemüht, die Täuschungen der sogenannten Reality TV Sendungen zu entlarven.
Als würde kein Mensch sofort sehen, daß diese Sendungen genau so viel Wahrheitsgehalt besitzen wie politische Dokumentationen der (schon wieder) sogenannten Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunkanstalten.
Jeder halbwegs mit Menschenverstand Geschlagene kann erkennen, daß die Storys der Reality-TV-Soaps ebenso gefakt sind wie beispielsweise die Bilder von den aufständischen Libyern oder Syriern. Was den entscheidenden Unterschied zu den Nachrichtensendungen ausmacht ist, daß Reality TV wirklich die Realität der Bunten Republik widerspiegelt und zwar auf mitunter brutal ehrlich Art. Damit meine ich nicht, daß hier völlig unterbezahlte Laienschauspieler bei all ihren Schwächen sich in der Regel weniger gestelzst bewegen und gekünstelt ausdrücken als alle Stars der für jeden asiatischen, spanischen oder italienischen Regisseur als Brechmittel zu verwendenden bunten deutschen Spielfilme, in denen z.B. (dem Vorbild der USA der 50er Jahre folgend) Leute, die im richtigen Leben 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienen, in Wohnungen residieren, die sich daselbst bestenfalls Manager leisten können, und die einen entsprechenden Lebensstil führen...
Nein, der brutale, ja, mitunter zynische Realismus der Reality-Soap-Operas zeigt sich an anderer Stelle:
Nachdem ich zufällig einen Teil der Panorama-Sendung gesehen hatte, wurde ich neugierig. Ich zappte tags darauf herum und stieß bei RTL auf ein Objekt meiner Begierde. Eine ordinäre und überfettete (und damit schon einmal realistischer als jede Mime des deutschen Films, der ich in den letzten Jahrzehnten beim Fehlzapping begegnete, wirkende) Jungmutter litt unter ihrer Armut und kaufte für ihr Kind via Internet und auf Pump die schönsten Sachen ein; Diagnose: Kaufsucht. Ihr arbeitsloser Ehemann hat die sogenannten Faxen dicke, er nimmt wie John Henry einen Hammer, zerschlägt damit das Lapetop, als quasi corpus delicti dieser Krankheit, und wirft es zum Fenster hinaus.
Ich hatte genug gesehen, um mir meine Meinung zu bilden. Realistisch und unabsichtlich zynisch wurde hier eine Szene aus dem bunten deutschen Alltagsleben nachgestellt. Wieviele Mütter sind frustriert, in einer Gesellschaft, deren Massenmedien Konsumieren als den einzigen Lebenszweck aller ihnen Hörigen proklamieren, ihren Kindern nichts kaufen zu können? Und das Öffentlich-Rechtliche-Fernsehen füttert sie mit den Exzessen der Verschwendungssucht von Kretins (von denen ich mir höchstens die Live-Übertragung ihrer Hinrichtung im Fernsehen ansehen würde), die das von ihren Vätern oder selbst durch Betrug und Korruption erschlichene Vermögen auf primitivste Art verschleudern dürfen.
Unsere fette Jungmutter ist - und benimmt sich wie - ein Kind dieser Gesellschaft, sie beneidet diese Kretins, die ihren Kindern jeden Morgen ein neues Reitpferd schenken können, und hat nicht einmal 200.- Euro für ein Kinderbett. Wenn sie dennoch via Internet einkauften geht, so vergißt sie für Momente ihren Frust... Und diese Gesellschaft hängt ihr dafür das Etikett Kaufsüchtig um den Hals so wie das Strafsystem des Mittelalters den notorischen Spielern Würfel... Wir entdecken hier in wenigen Minuten Reality-TV  Methoden, die die dekadente kapitalialistische Ausbeutergesellschaft anwendet, um mit Armut geschlagene Menschen wie unsere überfettete Jungmutter mit einer eigens hierfür erfundenen angeblichen Krankheit zu pathologisieren. So widerlich diese Bigotterie ist, sie ist nur zu real!
Weiter: Der arbeitslose Jungvater verhält sich vorbildlich gesellschaftskonform, er macht das Medium, das seine Frau zum Frustabbau (polemisch Kaufsucht) benutzte für ihren Frust (Krankheit) verantwortlich, so wie er das vom ZDF und anderen Volksverblödern gelernt hat, als könne seine Frau ihre angebliche Sucht nicht mittels Printmedien (Otto-, Neckermann- und andere Kataloge) befriedigen.
Und nolens volens haben wir in insgesamt vielleicht zehn Minuten eine zweite Methode zum Verschleiern der Mißstände der moralisch verkommenen dekadenten Ausbeutergesellschaft innerhalb einer einzigen Reality-TV-Sendung erkannt. Obwohl frustriert und arbeitslos ist die Lüge tief im Unbewußten des im Affekt handelnden Jungvaters (und damit umso tiefer) verankert: Die (sogenannten) modernen Medien sind Schuld! Für ihn schaffen sie die Kaufsucht wie den Amokläufer oder den Pädophilen de facto!!!
Einfach geil, dieser Realismus, würde er nicht, wir befinden uns im Nachmittagsprogramm, durch ständige Piep-Töne gestört werden, wenn die Laienschauspieler sich zu ordinären Ausdrücken hinreißen lassen, die gemessen an deutschen Spielfilmen allerdings harmlos sind und vielleicht weniger aus Zensurgründen unterdrückt werden, sondern aus künstlerischen, als Reminiscence möglicherweise an die Heimat der Reality-Soaps USA.
Über den aufklärerischen Wert der Soap-Satire Zwei bei Kallwass habe ich schon mehrmals geschrieben. Wie jede gute Satirikerin versteht es die Protagonistin lediglich durch verkürzte pointierte Widerspiegelung der Realität, deren Mißstände zu offenbaren. De facto maßen sich kapitalismusweit Therapeuten jeglicher (Hilfs-)Schulen an, ihre Klienten zu heilen, indem sie sie ohne Rücksicht auf Verluste zu treublöd funktionierenden Rädchen der dekadenten Ausbeutergesellschaft erziehen wollen. Ihnen ruft die mit unerschütterlich trockenen Humor gesegnete Satirikerin Angelika Kallwass in der Werbung für ihren - von Der Schöne Fall!!! - preisgekrönten Dauerbrenner die weisen Worte zu: Man kann den anderen nicht ändern, nur sich selbst!

Wenn man also Reality-TV als das Ernst nimmt, was es tatsächlich ist, ein Spiegel der Gesellschaft, so kann man SAT1 nicht hoch genug wertschätzen und gegen die Volksverblöder der Öffentlich-Rechtlichen-Fernsehanstalten (nomen est omen) als Aufklärer ins Feld führen.
Der Mensch in der moralisch verkommenen Zeit des Spätkapitalismus steht hier im Zentrum des werktäglichen Fernsehprogrammes.
Von 13:00 bis 14:00 Uhr mimen Laiendarsteller in einer fiktiven Talk-Show in der Regel Menschen, die aus der Bahn geworfen werden, weil sie sich wie oben erwähnte Kretins aufführen, indes nicht über deren (angeborene) kriminelle Energie verfügen.
In der folgenden Stunde wird von unserer genialen Angelika Kallwass der quasi sanfte Weg der Rückführung von Regelverletzern auf stets köstliche Art und Weise parodiert.
Hilft dies nicht, so müssen restriktivere Maßnahmen folgen. Und dies führt SAT1 von 15:00 bis 17:00 Uhr vor: Und zwar wiederum gestaffelt. Benimmt sich die Staatsschützer-Mime der ersten Stunde noch moderat, so gibt sie ihren Richterstuhl, lediglich durch eine längere oder kürzere Werbepause unterbrochen, an einen - der Realität nur zu gut entsprechenden - widerlichen Aparatschik weiter, der die gefährliche Geistesleere auf's allerbeste vorspielt (Kann man sowas wirklich nur spielen?), die - wird sie mit Macht gefüllt - zu grenzenloser Selbstverliebtheit und ebensolcher Arroganz führt & zwangsläuftig, wird dem nicht Einhalt geboten, zum Gotteskomplex (Caesaren-Wahnsinn) pathologisiert.
Mit der Seifen-Oper Richter Alexander Holt hat SAT1 das Muster des staatstragenden Aparatschiks der dekadenten kapitalistischen Gesellschaft auf's Realistischte parodiert!
Wäre das Nachmittagsprogramm dieses Senders absichtlich so konzipiert, wie es dem sehenden Menschen mit einem IQ ab 88 erscheint, dann müßte man den Programmplanern nahezu Genialität unterstellen.
Dem ist mit Sicherheit nicht so, denn SAT1 geht es wie jedem Privatsender um Einschaltquoten. Und dieser Fakt hebt das Reality-TV quasi auf eine neue Stufe: Die Menschen, die sich diese Sendungen reinziehen, ahnen in der Regel nicht, daß deren Realität die ihre widerspiegelt, Mensch in einer moralisch in jeder Weise verkommenen, restriktiven, individualismustötenden, korrupten und bigotten Ausbeutergesellschaft zu sein.

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