Freitag, 24. Juli 2009

Zum Begriff Spießertum

(ganz besonders meinen Ex-Ehefrauen gewidmet)

Der Begriff wird heute inflationär gebraucht und dient zumeist der Abgrenzung des eigenen Spießertums von dem der anderen.
Es gibt keine spießerspezifischen Eigenschaften. Die Ängste, die dem Spießertum zugrunde liegen, sind allgemeinmenschlicher Natur.
Darüber hinaus gibt es auch keine spießercharakteristischen Handlungen.
Nicht die Handlung als solche, nicht ihre Form läßt sie zur Tat eines Spießers werden; sondern es ist die Einstellung zur Tat, die Lebensauffassung, die sich in ihr manifestiert.
Grundmotiv jedweden Spießertums ist Angst. Angst vor Unsicherheit, Angst vor dem Fremden, Angst vor Einsamkeit, Ausgegrenztheit, Angst vor dem Erfahren des eigenen nackten, des ungeschützten Ichs. - Dem stellt der Spießer seine Rolle entgegen, die er in der Gemeinschaft spielt. Jenseits eines Spießer-Kollektivs ist der Spießer undenkbar... Letztendlich ist die Motivation allen Tuns für den Spießer Unterwerfung unter einen Gruppenzwang, ihr liegt das Ethos der Gruppe zugrunde, an der er partizipiert (oder partizipieren will). Diese Gruppe kann aus wenigen Menschen bestehen oder ein ganzer Staat oder eine religiöse Vereinigung sein.
Das Kollektiv muß dabei kein "reaktionäres", es kann durchaus ein "progressives", "intellektuelles" oder "revolutionäres" sein. Auch ein Kollektiv, das die alten Formen seines Spießertums ablegt, dokumentiert im Zwang für die Mitglieder des Kollektivs es gleichzutun lediglich sein Spießerbewußtsein.
In Korrelation mit seiner Gruppe entwickelt der Spießer Lebensmaximen, -prinzipien und Verhaltensmuster. Alles, was diesen entgegensteht, wird als bedrohlich empfunden, abgestoßen, verfolgt, bekampft oder - auf einem "höheren" intellektuellen Niveau - mitleidsvoll belächelt.
Der Spießer braucht die Kommunikation, den Austausch mit Gleichgesinnten. Nur aus der Gruppe heraus bezieht sein schwaches Ego Überlebensnahrung. Die Angst, aus seiner Gruppe herauszufallen, ist demnach stets präsent. Der Verlust der Gruppe führt zu manchmal sogar tödlichen Katastrophen, immer aber zur Notwendigkeit sein Verhalten als Einzelwesen zu reflektieren. Dazu aber ist der Spießer unfähig.
Seit Joseph Roth kennen wir die revolutionären Spießer, jenes Kollektiv, das sich hinter roten Fahnen und Klassenkampfparolen verstecken muß.
Seit '68 kennen wir auch den mit der Tradition und den gesellschaftlichen Konventionen brechenden Spießer, jenen Spießer der Kommune, wo freie Liebe als Zwang zur Massenvögelei verstanden wurde und Sprache sich auf Herbert Marcuse Zitate reduzierte.
Jeder Spießer-Kollektiv hat seine eigene Sprache. Mit etwas Übung kann man einen Spießer anhand seiner Sprache seiner Spießer-Gruppe zuordnen.
Es gibt natürlich inzwischen auch Vergangenheitsbewältigungsspießer und Kriminelle Spießer-Vereinigungen...
Erst seit wenigen Jahren erkennen wir eine besondere Spezies der Spießer, jene, die die Gruppe bilden, die jegliche Gruppenbildung ablehnt. (Der Gott der Atheisten ist bekanntlich der mit dem längsten weißen Bart)

Was also macht den Spießer?
Intoleranz und seine Begrenztheit auf einen winzigen Horizont, den er mit einer Gruppe Gleichgesinnter teilt. Wichtig sind für ihn starre sinnfreie Formen und Rituale, denn diese befreien davon, Lebenssituationen zu überdenken und mechanisieren den Handlungsspielraum des Spießers. Ein Lebensplan schützt den Spießer vor emotionalen und/oder irrationalen Überfällen seines Unbewußten. Man riecht von fern schon die Schweißausbrüche, die ihm die kleinste Modifikation an diesem -im Grunde doch so labilen - Bauwerk kostet.
Der Spießer braucht eine Reflexionsebene Außenwelt, denn seine innere ist verkümmert oder verschlossen; nur als Mitglied einer Gruppe kann er handeln, nie als Einzelwesen.



(vor zehn Jahren geschrieben, ist aber immer noch ganz nett)

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