Sonntag, 15. November 2009

Zum Volkstrauertag: Es gibt immer einen Grund zum trauern, man muß ihn nur suchen

Die Deutschen trauern gern. Die Deutschen trauern sehr gern. Und wenn die Deutschen via Massenmedien an die problematische Thematik heran- bzw. über sie hinweggeführt werden, so trauern sie auch über Selbstmörder, vorausgesetzt es sind Promis.
Heute morgen rief mich Heinrich S. Ehrenberg an und frug mich, ob wir - als des Cosmopolitismus Verdächtige - mal in Deutsch machen (das waren seine Worte. Es stimmt, oftmals muß ich seine Beiträge für unser Blog in eine halbwegs vernünftige Sprache bringen) und so richtig trauern wollen?
Ehrenberg selbst fiel dazu nichts ein, hat er, der Wessi, doch vor vielen Jahrzehnten an Alexander Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu Trauern (als gelernter Buchdrucker) mitgearbeitet und sich bis heute nicht davon erholt.
Also muß ich mal wieder meinen Kopf hinhalten
& Trauerarbeit leisten.
Ja, worüber soll ich trauern? Über meine seinerzeit verspielte Karriere beim Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen DDR vielleicht? Ja, warum nicht?! Am Volkstrauertag ist es ist nicht wichtig worüber, sondern daß man trauert!
Ich war 17. Und eines schönen Wintertages erhielt ich eine Vorladung zum Wehrkreiskommando (sic!). Ich dachte es sei so etwas wie eine Vormusterung und staunte nicht schlecht, als sich die beiden mich empfangenden Herren als Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen usw. DDR vorstellten.*
Die erste Frage war, ob ich Mittag essen möchte, und als ich ablehnte, gab es Kaffee und Zigaretten.**
Schließlich kam man zur Sache. Ihre scheinbar ungerichteten Fragen richteten sich nach einer Person aus meinen entfernteren Bekanntenkreis, die einst mit ihren Eltern von der BRD nach der DDR übergesiedelt war und die man für einen Westagenten hielt. Ich erzählte ihnen (oder vielleicht auch nicht) daß eben jener Mensch, den sie für einen Westagenten hielten, von uns für einen ihrer Kollegen gehalten wurde.
So oder so: Im Gegensatz zu den Verfassungsschützern waren diese beiden MfI-Mitarbeiter weder paranoid noch ungebildet. Wir unterhielten uns mitten im Winter über den Prager Frühling, über Kafka und die sogenannten Regimekritiker...& ich konnte in diesen zwei, drei Stunden viel für's Leben lernen, z. B. wie man schriftstellern muß, um als talentlose Null dennoch im Westen groß raus zu kommen.
Als ich mich verabschiedete heuchelte ich wohl sogar noch Bedauern, den netten Herren nicht weiterhelfen zu können, und bat sie für alle Fälle um ihre Telephonnummer.
Die netten MfI-Mitarbeiter fanden meine Nettigkeit nun wiederum irgendwie lustig und versicherten, sie würden sich auf jedem Fall wieder bei mir melden.
--- Als ich das Gebäude verlassen hatte wunderte ich mich erst einmal über meine Cruzpe (neudeutsch: coolness), u.a. auf alle Fragen offen geantwortet und dennoch keinen meiner Freunde belastet zu haben...
& Das war f a l s c h! Es machte mich übermütig.
Dieser Übermut stachelte meine Selbstexperimentierfreude an (die in späteren Jahren mitunter lebensgefährliche Züge annehmen sollte). Nein, nicht etwa in Regimekriteln zu experimentieren, das taten damals bereits schon zu viele nach Mattheus 5,3 selig Gesprochene.
Vielmehr fiel mir ein, in einem Agenten-Thriller gesehen zu haben, daß ein vom Geheimdienst zur Mitarbeit ermunterter Mensch von diesem in Ruhe gelassen wurde, nachdem er von dem Anwerbeversuch sowohl jenen Menschen erzählte, die es wissen, wie jenen, die es nicht wissen wollten.
So tat ich auch. Ich wollte quasi experimentell die Film-Realität mit der DDR-Realität überprüfen. Und siehe: Ich hörte von diesen beiden wirklich netten Menschen nie mehr wieder etwas.
Erst sieben Jahre später - ich hatte Sachsen den Rücken gekehrt & war in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen DDR gelandet -, beim Studium erfolgte ein zweiter Anwerbeversuch, diesmal via Beischlaf. Ich tat, wie ich's gelernt hatte, erzählte allen, daß jenes Mädel eine Inoffizielle Informantin des MfS sei und mich hätte anwerben wollen; es half auch diesmal, sie verschwand umgehend von der Bildfläche.
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Der heutige Volkstrauertag gibt mir Anlaß zu trauern. Nicht über das häßliche Mädel sondern über meine Karriere, die meine Experimentierfreude mich kostete! Wie jeder ordentliche Ex-Stasi-Spitzel könnte ich heute eine wichtige Rolle in der Politik, der Wirtschaft, der Bildung oder der Kultur spielen. Und wenn es dazu nicht gereicht hätte, so zumindest in der Bundeswehr oder dem Zentralrat der Juden...
Nein, Selbstexperimente lohnen sich nicht, wenn man schon experimentieren muß, dann mit anderen.
HJS
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* Jahre später, ich war gerade in Westberlin eingetroffen, erhielt ich eine Vorladung zum Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke. Wie sich die Bilder gleichen, dachte ich, als mich dort der Verfassungsschutz in Empfang nahm.
** Beim Verfassungsschutz gab es nicht einmal Leitungswasser, stattdessen satt Paranoia, absurde Unterstellungen und wahnwitzige Drohungen, wenn ich mich nicht als DDR-Agent zu erkennen gebe und mit den Geisteskranken mitspiele... Ich weiß gar nicht mehr, wie ich diesen Irrsinnigen entkam.

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