Aus den unveröffentlichten Memoiren des Heinrich S. Ehrenberg (sen.), geschrieben um 1999.
Ehrenberg erinnert sich an eine Jugendliebe im Erzgebirge:
...Und überhaupt, die sozialistische Moral unterschied sich bekanntlich von der bürgerlichen nur durch das Präfix klein und durch ihre wunderschönen Euphemismen, hier Wunschkind- (= positiv), dort – jenseits des Antifaschistischen Schutzwalls – Antibaby- Pille (= negativ)... Und Jungmädel Elektra nahm die kostenlos verabgabte Wunschkindpille stolz entgegen und fühlte sich dank Ehrenberg mit ihren sechzehn Jahren bereits als Frau im Sozialismus...
Ehrenbergs Gedanken gingen zurück zu einem schönen Frühsommertag, als er zu Gast war in Elektras Heim in jener erzgebirgischen Kleinstadt, in der man noch 1979 bei einem altersdebilen Schreibwarenhändler ungestraft Bücher aus der NS-Zeit zu den ausgezeichneten Reichsmarkpreisen erwerben konnte. Hanns Johst spricht zu Dir hatte er hier für 3,25 Mark gekauft, Will Vesper, Hans Grimm und Tore Hamsuns Mein Vater von 1940. Das war der real existierende Sozialismus, dachte Ehrenberg grimmig und erinnerte sich an Arisbes Mann, der aus politischen Gründen eingefahren war und bei dem es – laut Urteilsbegründung – strafverschärfend gewirkt hatte, daß sich bei der Hausdurchsuchung Bücher von Schopenhauer und Nietzsche fanden... Hier, in Elektras Heimatstadt, wurden noch Jahre später Nazischriftsteller angeboten. Jeder in der Gegend wußte es und keiner ging dagegen vor, weil überdurchschnittlich viele SED-linge des Ortes bibliophil veranlagt waren, an ihrer Spitze Elektras Vater. Gönnerhaft fiel er an diesem durch die obligate Erdbeertorte, die Elektras Mutter ungezählte Male von den Früchten der hauseigenen Gartenbeete zubereite und kredenzte, versüßten Tag Ehrenberg um den Hals und versicherte dem sich als angehenden Theologiestudenten Offenbarenden, er sei ihm jenseits aller klassengegensätzlichen Barrieren auch als solcher in der Familie willkommen. Lächerlich erschien Ehrenberg diese Rührszene damals wie heute. – Nein, um diesen ehemaligen Stasi-Offizier mußte er sich keine Sorgen machen, er gehörte zu jener – in Jacob Burckhardts Terminologie – Art der Haltefest, Raubebald und Eilebeute, die jede – auch die friedlichste – Revolution unbeschadet überstehen, sich mit den neuen Machthabern arrangieren und den Regimewechsel nie als Bruch ihrer Karriere empfinden, an ihr letztendlich verdienen, weil... Ja, weißderteufel! Wußte Ehrenberg denn nicht schon damals, daß dieser Mensch einen Großteil seiner Bücher skrupelfrei von Republikflüchtlingen übernommen respektive von jenen zu einem Spottpreis gekauft hatte, die ob ihrer Absicht, die DDR zu verlassen, gezwungen wurden, ihre Bibliothek zu veräußern? Wenn schon. Macht- und Gewinnverteilung liegen in jedem System in den gleichen Händen. Mag sein, daß er damals mißbilligend darüber hinwegsah, heute akzeptierte es Ehrenberg als Normalität. Und hatte er sich nicht selbst auf unlautere Art bereichert, indem er das eine oder andere Buch dem Volksbuchhandel entwendete, abgesehen davon, daß er bei der Leipziger Buchmesse den Klassenfeind auf die gleiche Art schädigte? – Das eine wie das andere gehörte zum DDR-Alltag; und wahrscheinlich hinterfragte er sein Verhalten und seinen Umgang zu jener Zeit überhaupt noch nicht. Ehrenberg entsann sich, daß es ihm, der sich selbst als Staatsgegner definierte, keine Probleme bereitete, jahrelang im heimatlichen Club der Intelligenz zu verkehren, einer ansich schon anachronistischen Einrichtung des Arbeiter-und-Bauern-Staates. Hier traf er mitunter allabendlich mit vielen SED-Emblem-Geschmückten zusammen, die in puncto Guldur den Ton im Kreis angaben. Unter ihnen befand sich ein Großteil jener Lehrer, die er als Schüler, nicht zuletzt ob ihrer unerbittlichen Staatstreue, gehaßt hatte. Nun lernte er sie privat und von einer völlig neuen Seite kennen. Und Ehrenberg rannte nicht vor diesen Opportunistenschweinen davon. Weißderteufel, nein. Er, der zu jener Zeit bereits vom Stasi Observierte, soff mit ihnen um die Wette; und die Genossen vertrugen viel, im Erzgebirge traditionsgemäß besonders. Es war eine gute Schule der Trinkfestigkeit, die ihn später bei vielen Gelegenheiten zupaß kam...
...Er versuchte, die Spirale seiner Erinnerung noch weiter zurückzuschrauben, erkannte vernebelt Inneneinrichtung und Gestalten jenes obskuren Club der Intelligenz, in dem sich selbstverständlich stets der eine oder andere Informelle Mitarbeiter an seiner Tarnung zu erkennen gab, in den sie beide aus verschiedenen Gründen eigentlich nicht hingehörten. In diesem Paradoxon hatten sie sich wahrscheinlich kennengelernt, Heinrich und Elektra, hier, wo Ehrenberg durch einen bibliotheksleitenden und somit staatstragenden Alkoholiker zu Thomas Wolfe, einem seiner späteren Lieblingsschriftsteller, hingeführt worden war, hier, wo an manch einem Abend eben erinnerte Opportunistenschweine ungeniert um die Bücher schacherten, denen sie in den nächsten Tagen, so ein Bedarf unter den Genossen vorhanden, die Ausreise verweigern wollten... Die zumeist mit einer klapprigen Erika in dreifacher Ausführung erstellten Listen gingen ohne Wissen und Billigung ihrer Schreiber von der einen alkoholschweißfeuchten Hand eines Guldurschaffenden zur nächsten, mit ihren drei Kreuzen requirierten sie den für sie interessanten Nachlaßteil des für die Gemeinde des DDR-Sozialismus Gestorbenen... – Jahre später, schweiften Ehrenbergs Erinnerungen ab, da hatten Tekmessa und er selbst diese Listen verfassen müssen, in dreifacher Ausfertigung auf seiner schweren Robotron-Maschine, die er wiederum Jahre später in die nun ehemalige DDR zurückschenkte, um einen der vielen armen Lyriker dieser Ex-Republik damit die Freudentränen in die Augen zu treiben. Großzügig war Ehrenberg, weißderteufel! Und diese Großzügigkeit hatte ihn auch nach der Widervereinigung verboten, nach jenen ihm – im Gegensatz zu denen seiner Geburtsstadt – nicht namentlich bekannten Kulturschaffenden der ehemaligen Hauptstadt des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden zu fahnden, die für sich seinerzeit Wittgenstein, Wilhelm Reich, die Thomas-Mann- und Stefan-George-Erstausgaben oder den Hamsun aus seiner Bibliothek requiriert hatten. Zumindest sein geliebten Knut Hamsun war inzwischen dank der billigen Trödler im Wedding reicher denn je heimgekehrt; auf den Rest konnte er ohnehin verzichten, gestand er ein ...
Club der Indolenz, so griff er die Paraphrase seiner Jugend auf und ließ damit diese Einrichtung seiner Geburtsstadt paradigmatisch werden für alle geschlossenen Saufanstalten. Mehr war wohl dieses Etablissement im Grunde auch nicht gewesen, deren Besucher herablassend auf die Draußenstehenden äugten: Prolos – obwohl oder gerade weil dieser Begriff im Arbeiter-und-Bauern-Jargon nie Wurzeln fassen konnte –, von denen die sich gleicher als gleich fühlenden Kultur- und anderen Bonzen weder beim Saufen und Fressen über die Schulter, noch bei ihren Intrigenspielen in die Karten gucken lassen wollten. Und überhaupt, gab es nicht ungezählte als Club der Werktätigen getarnte Kneipen, die natürlich ihrerseits die sich gleicher als gleich Fühlenden nicht draußen vor der Tür stehen ließen, waren doch auch die Kultur- und Politikschaffenden laut offizieller Definition eben nicht zuletzt deshalb gleicher als gleich, weil sie bei Bedarf auch als Werktätige gelten durften...
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